Buch

„Beyond Molotovs“: Kunst im Kampf gegen autoritäre Tendenzen

„Beyond Molotovs – A Visual Handbook of Authoritarian Strategies” heißt der nicht nur gesellschaftspolitisch bedeutende, sondern zugleich auch wunderbar gestaltete Band der International Research Group on Authoritarianism and Counter-Strategies (IRGAC) der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Das Buch handelt von Kämpfen gegen reaktionäre, autoritäre Tendenzen unserer Zeit. Autoritarismus agiert weitgehend auf einer Gefühlsebene, anstatt sich auf Argumente zu stützen. „Beyond Molotovs“ fragt daher, wie wir autoritären Affekten entgegentreten und eine antifaschistische Zukunft einfordern können. Die Publikation versammelt mehr als 50 Berichte aus erster Hand von antiautoritären Bewegungen aus aller Welt, die sich auf die künstlerische, sinnliche und emotionale Dimension ihrer Strategien konzentrieren. Wir sprachen mit Aurel Eschmann von der IRGAC über das Projekt.

Feminist Night March, 2020 Istanbul. Foto: Aus "Beyond Molotovs - A Visual Handbook of Authoritarian Strategies"
Feminist Night March, 2020 Istanbul. Foto: Aus „Beyond Molotovs – A Visual Handbook of Authoritarian Strategies“

tipBerlin Herr Eschmann, vielleicht können Sie vorab erklären, wie sich die IRGAC-Gruppe hinter dem Buch zusammengefunden hat und wie Sie gearbeitet haben?

Aurel Eschmann Das ganze begann mit einem Gespräch zwischen Börries Nehe und mir. Börries ist der Leiter eines Forschungskollegs zu Autoritarismus und Gegenstrategien, wo ich eine sporadische beratende Rolle innehabe da ich selbst zu dem Thema forsche. Wir stellten fest, dass die Analyse von Autoritarismus und speziell Faschismus immer und immer wieder bei der Erkenntnis ankommt, dass diese politischen Phänomene eben nicht mit rationalen Argumenten überzeugen.  Viel mehr docken sie auf der Tiefenebene an, mobilisieren kollektive Affekte, sprechen existenzielle Ängste und Wünsche an. Diese Erkenntnis wird aber nur selten mitgenommen, wenn Leute sich mit Gegenstrategien auseinandersetzen. Da geht es dann selten um Affekte oder Sozialpsychologie, sondern doch wieder nur darum, was sie fordern oder argumentieren, und ob sie ihre erklärten Ziele erreichen oder nicht.

tipBerlin Und so entstand dann die Idee, das Buch zu machen?

Aurel Eschmann Richtig. Deswegen entschieden wir uns, dieses Buch zu machen, bei dem im Zentrum die Frage steht: Was für affektive Gegenstrategien gibt es bereits? Welche Sinneserfahrungen und Erfahrungsräume damit Leute sich einem autoritären System entgegenstellen? Und die dafür teilweise sogar bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Zunächst haben wir uns dafür mit Paul Schweizer und Severin Halder vom kollektiv orangotango zusammengetan, da sie mit „This is not an Atlas“ bereits Erfahrung mit einem ähnlichen globalen Mammutprojekt hatten und weil auch Kartografie als Gegenstrategie eine Rolle spielen sollte. Zusammen erarbeiteten wir einen offenen Call für Beiträge. Wir erhielten weit über 150 Einreichungen, und um Lücken zu schließen, die wir in der Gesamtschau der Einreichungen identifiziert hatten, fragten wir noch etliche weitere Beiträge direkt an.

Insgesamt wählten wir 50 Beiträge für das Buch aus. Für die Betreuung der Beiträge und die weitere Entwicklung des Buches holten wir Julieta Mira, Inés Durán Matute und Ailynn Torres Santana, damals Post-Doc Fellows des Kollegs, hinzu. Als letztes Mitglied unseres Herausgeber:innenkollektivs kam Nico Baumgarten, der zunächst nur als Layouter für das Buch hinzustieß. In einem Prozess, der sehr gut zum Fokus des Buches auf Ästhetik und Kunst passt, und dem Argument, dass sich Inhalt und Form kaum trennen lassen, wurde Nico bald ein wichtiger Teil des Kollektivs, der viele inhaltliche Aspekte entscheidend mit beeinflusste.

Ich glaube, es ist allen inzwischen klar, dass wir derzeit eine globale autoritäre Transformation sehen.

Aurel Eschmann

tipBerlin In dem Band „Beyond Molotovs“ berichten Sie von feministischen Bewegungen in Indien, Iran, Mexiko und Polen bis hin zu Nähkollektiven und subversiver Internetkunst in Hongkong. Sie dokumentieren antiautoritäre Proteste in der ganzen Welt. Wie kam es zu der jeweiligen Auswahl der Aktionen, Projekte und Themen?

Aurel Eschmann Ich glaube, es ist allen inzwischen klar, dass wir derzeit eine globale autoritäre Transformation sehen. Aber in seinen lokalen Ausformungen unterscheidet sich dieser Autoritarismus teilweise stark voneinander, rekombiniert verschiedene Elemente wie Nationalismus, Rassismus, Religion, Anti-Feminismus, Sozialdarwinismus, bestimmter Arten der Repression und so weiter. Genau deshalb ist Autoritarismus für uns als Konzept gegenüber spezifischeren Bezeichnungen praktisch, da es uns ermöglicht einen Bogen über diese lokalen Phänomene zu spannen und zu sehen, dass sie alle Teil eines globalen Phänomens sind.

Aber genau deshalb denken wir auch, dass die, die selbst gegen autoritäre Systeme kämpfen, letztendlich am besten wissen, wie Autoritarismus bei ihnen aussieht. Deswegen sind wir nicht mit einer vorgefertigten Definition vorangegangen, sondern haben die Autor:innen selbst definieren lassen, was Autoritarismus ist. Deshalb finden sich im Buch kämpfe, die man vielleicht auch als feministische, anti-rassistische oder Umweltkämpfe klassifizieren könnte, die aber in ihren jeweiligen Kontexten eben auch anti-autoritäre sind.

tipBerlin Und so landen Sie auch schnell bei Kunst und Ästhetik?

Aurel Eschmann Wichtig war uns aber bei der Auswahl der Beiträge, dass die Autor:innen den Fokus auf die affektive Dimension der jeweiligen Gegenstrategie legen. Welche Emotionen werden angeregt, welche Sinneseindrücke geschaffen, welche Selbsterfahrungsräume aufgemacht, welche Beziehungen gepflegt? Mit diesem Ansatz landet man natürlich schnell bei Kunst und Ästhetik, denn das ist oft das, was uns am meisten berührt und bewegt. Alles in diesem Buch ist Kunst, ob es der Pappmaché-Penis aus St. Petersburg ist, die Post-it-Wände aus Hongkong, feministisches Graffiti aus Indien, oder ein anti-autoritäres Brettspiel. Denn allen wohnt jener emanzipative Affekt inne, der Kunst erst zu Kunst macht.

Feministische Aktivistinnen malten die Namen von Opfern von Feminiziden auf einen Metallzaun vor dem Nationalpalast, der ursprünglich dazu gedacht war, feministische Proteste vom Gebäude fernzuhalten, Mexiko. Foto: Aus "Beyond Molotovs - A Visual Handbook of Authoritarian Strategies"
Feministische Aktivistinnen malten die Namen von Opfern von Feminiziden auf einen Metallzaun vor dem Nationalpalast, der ursprünglich dazu gedacht war, feministische Proteste vom Gebäude fernzuhalten, Mexiko. Foto: Aus „Beyond Molotovs – A Visual Handbook of Authoritarian Strategies“

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tipBerlin Gibt es eine Grenze die sich ziehen lässt, zwischen antiautoritärem Kampf und einer engagierten Initiative?

Aurel Eschmann Wir sehen Autoritarismus nicht als isoliertes Phänomen, sondern als ein Resultat eines neoliberalen Kapitalismus, der immer weniger in der Lage zu sein scheint, unsere aktuellen Krisen, zu lösen, allen voran die Klimakrise. Dieser massive Legitimitätsverlust wird mit einer immer gewaltvolleren Machtausübung und Repression kompensiert, bei der von unten erkämpfte Freiheiten und Räume abgebaut wird, um die Stabilität der etablierten Herrschaftsverhältnisse zu sichern. Auch gibt es diejenigen, die auf diese autoritäre Wende mit einer Fetischisierung der Unterdrückung reagieren, da es die einfachere psychologische Lösung erscheint, als sich der scheinbaren Übermacht entgegenzustellen. Sie werden zu enthusiastischen Unterstützern dieser gewaltsamen Herrschaft, die auch vor Gewalt gegen vermeintlich Schwächere nicht zurückschrecken.

tipBerlin Ein übermächtiger Gegner, gegen den anzukämpfen nach einem utopischen Unterfangen klingt.

Aurel Eschmann Diese politische Formation sollte eine Strategie in irgendeiner Weise mitdenken damit sie für uns interessant wird. Wird all das ausgeblendet, so agiert eine Bewegung letztendlich affirmativ, da sie die Herrschaftsverhältnisse stabilisiert. Das heißt aber auch, dass dieser Anti-Autoritarismus keine Rückkehr zum status quo fordern kann, denn dieser ist ja verantwortlich für den Autoritarismus. Deshalb sind wir interessiert in die konkreten utopischen Potenziale, die Widerstandsbewegungen innewohnen.

tipBerlin Noch mal zurück zur Ästhetik. Wie wichtig sind bei den Kämpfen gegen reaktionäre und autoritäre Tendenzen künstlerische Strategien?

Aurel Eschmann Sehr wichtig, in Ergänzung zu dem was ich oben schon gesagt habe. Autoritarismus in all seinen lokalen Ausformungen, wie z.B. dem Faschismus, spricht reale Gefühle, Ängste und Wünsche an – auch wenn sie in eine destruktive Richtung kanalisiert werden, die keine wirkliche nachhaltige „Lösung“ für diese inneren Probleme darstellt. Wir müssen uns fragen, wie wir diese Gefühle, Ängste und Wünsche mit einem emanzipativem Gegenangebot ansprechen können – und da sind wir automatisch bei der Kunst.

tipBerlin Gemeinhin wird bei sozialen oder politischen Bewegungen aber die Kunst höchstens als ein Ornament betrachtet und weniger als ein zentraler Bestandteil des Protestes.

Aurel Eschmann Wie wichtig diese Strategien sind das können wir auch erkennen, wenn wir einen Blick in unsere eigenen Biografien werfen und fragen: Was hat uns eigentlich politisch aktiviert und uns Mut gemacht, für eine Welt einzutreten die gerechter und lebenswerter ist, auch in Situationen wo es vielleicht bequemer, wäre sich anzupassen? Bei mir selbst und bei den meisten anderen Menschen haben Beziehungen, gemeinsame Erfahrung und die Sinneseindrücke, auf eine Demonstration zu gehen oder an einer Blockade teilzuhaben, mindestens genauso viel für die eigene Politisierung beigetragen wie Argumente oder Texte, mit denen man in Kontakt kam.

In diesem Sinne würde ich die These wagen, dass politische Festivals wie die Fusion, die ja gerne mal als „Ferienkommunismus“ abgetan wird, viel mehr zur nachhaltigen Politisierung beiträgt als andere Formate. Dort lassen sich für einen kurzen Moment erahnen, wie sich das Leben in einer befreiten Gesellschaft anfühlen könnte, und es gibt die Möglichkeit mit verschiedenen Subjektivierungen zu experimentieren. Solche Erfahrungen sind für eine nachhaltige Veränderung der Einstellung zur Gesellschaft an Wichtigkeit kaum zu überschätzen.

Protestkunst in Hongkong, an der Kwai Fong Lennon Wall. Foto: Aus „Beyond Molotovs – A Visual Handbook of Authoritarian Strategies“

tipBerlin Können Sie einige Beispiele für diese Form der künstlerischen Praxis benennen?

Aurel Eschmann In unserem Buch gibt es eine enorme Bandbreite von künstlerischen Praktiken. Zum Beispiel ein queerfeministisches Kollektiv aus Indien, das mit seiner Street-Art daran erinnert, dass es noch abweichende Lebensweisen gibt, während die Faschisten die Gesellschaft auf eine Diktatur der Normalität, also der Hetero-Kleinfamilie reduzieren wollen.

Oder Plakate in der Türkei, auf denen übersetze Auszüge aus Charlotte Beradts Sammlung von Träumen im Dritten Reich zu lesen sind. Neben den Auszügen ist Platz, um anonym selbst die eigenen Träume aufzuschreiben.

Ein Brettspiel zu Verschwörungstheorien, das es erlaubt, dort im Kontakt zu bleiben, wo Kommunikation sonst versagt – indem man in die Rolle von Spieler:innen schlüpft.

Es gibt noch so viel mehr, eigentlich könnte ich jeden Beitrag im Buch nennen: Teppiche die als dekoloniale Karten fungieren und ein Gegennarrativ zur herrschaftlichen Erzählung bilden, anti-autoritäre Memes, oder ein Zaun der zum Schutz des Rathauses vor Demonstrant:innen in Mexiko aufgestellt wird – und sich daraufhin zu Kommunikationsmittel, Archiv und Denkmal des Protestes verwandelt.

Das Buch soll also einen Beitrag leisten anders über anti-autoritäre Gegenstrategien nachzudenken. Wir sehen auch schon, dass die Strategien im Buch ganz unerwartet aussehen – und z.B. viel bunter als die klassisch schwarze Antifa-Ästhetik die wir in Berlin vielleicht gewöhnt sind.

Aurel Eschmann

tipBerlin Welche Rolle spielt Berlin in diesem Kontext?

Aurel Eschmann Das Buch ist natürlich global ausgerichtet, und die allermeisten Beiträge kommen aus dem Globalen Süden. Jedoch sind die meisten der Herausgeber:innen in Berlin, sowohl IRGAC als auch kollektiv orangotango haben hier ihr Hauptquartier. Da die Suche nach Beiträgen viel über unsere Netzwerke passiert, sind viele der Beiträge über Ecken irgendwie mit Berlin verbunden. Es ist ein Symbol dafür, wie international Berlin ist und wie wichtig Berlin als Ort für antiautoritäre und utopistische Bewegungen ist, dass wir so ein Buch von Berlin aus machen können.

tipBerlin Das Buch will vermutlich mehr als nur zu dokumentieren. Hängen auch aktivistische Erwartungen mit der Veröffentlichung zusammen?

Aurel Eschmann Zunächst ist das Dokumentieren von antiautoritären Kämpfen auch eine wichtige Sache, denn sie sind oft schnelllebig und großer Repression ausgesetzt. Den Beteiligten fehlt die Zeit zu dokumentieren und sich zu vernetzen, und oft werden sie von der herrschaftlichen Geschichtsschreibung einfach unsichtbar gemacht.

Darüber hinaus war es uns aber wichtig, die affektive Ebene von anti-autoritären Gegenstrategien hervorzuheben, da sie oft vergessen wird und generell systematischer gemeinsam über die vielen Kämpfe nachzudenken, die weltweit gegen Autoritarismus geführt werden. Mit dieser neuen Perspektive ändert sich zum Beispiel auch die Art, wie wir Erfolg oder Misserfolg bewerten. Eine Bewegung mag ihre Ziele verfehlen, aber diejenigen verändern, die dabei waren. So kann sie ihren historischen Moment durchbrechen und an anderer Stelle und in veränderter Form wieder auftreten.

  • Beyond Molotovs – A Visual Handbook of Anti-Authoritarian Strategies herausgegeben von der International Research Group on Authoritarianism and Counter-Strategies / kollektiv orangotango (eds.), Transcript Verlag, 356 Seiten, 40 Euro, zu beziehen direkt beim Verlag
  • Ausstellung und Buchvorstellung: “Beyond Molotovs – A Visual Handbook & Exhibition of Anti-Authoritarian Strategies” – Spore Haus, Hermannstr. 86, Neukölln, Sa 1.6., 15 bis 23 Uhr, weitere Informationen hier

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